Was sind die Grundannahmen der Psychoanalyse?

Allgemein formuliert ist die Psychoanalyse

  • der Name eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, insbesondere unbewusster Phänomene, welche sonst kaum zugänglich sind
  • eine therapeutische Methode zur Behandlung neurotischer und psychosomatischer Symptome und Persönlichkeitsstörungen
  • eine Reihe von auf psychologischem Wege gewonnenen Einsichten, die mit ihren verschiedenen Anwendungen eine eigene wissenschaftlich anerkannte Methode begründen
    (vgl. hierzu S. Freud, GW XIII, S. 211)

Zu den zentralen Annahmen der Psychoanalyse gehören folgende Aspekte:

  • psychische Determinismus
    Psychoanalytiker gehen davon aus, dass aktuelle psychische Störungen und eine Reihe von organisch nicht ausreichend zu erklärenden körperlichen Symptome der Versuch des Individuums ist, vor dem Erfahrungshintergrund früherer bewusster und unbewusster Erlebnisse sich an aktuelle Anforderungen oder aber Überforderungen anzupassen. Dies heißt jedoch nicht, dass z.B. familiäre, genetische oder andere soziale Faktoren beim Zustandekommen der Störung unberücksichtigt bleiben.
  • unbewusste psychische Prozesse
    Das Denken und Handeln wird nicht nur von bewussten, sondern auch von komplexen unbewussten Prozessen bestimmt. Unbewusste Phantasien, Wünsche nach Triebbefriedigung und Sicherheit usw. beeinflussen das Verhalten, die Wahrnehmung eigener und fremder Gefühle und färben die kognitiven und Verhaltensmuster, d.h. wie wir die soziale Umwelt wahrnehmen und uns in ihr bewegen und agieren.
  • verinnerlichte Strukturen der Beziehungserfahrungen
    Die Erfahrungen, die die Individuen während ihrer Lebensgeschichte mit anderen Menschen gesammelt haben, finden ihren Niederschlag in inneren Strukturen. Diese so genannten Selbst- und Objekt-Repräsentanzen erzeugen im Hier und Jetzt Erwartungen in Bezug auf das eigene Verhalten und das der anderen Menschen. Sie stehen sozusagen für die Gesamtheit der inneren Welt.
  • Allgegenwärtigkeit des psychischen Konfliktes
    Innere Konflikte zwischen unterschiedlichen eigenen Wünschen und verinnerlichten Normen und Erwartungen der Umgebung sind unvermeidlich, führen jedoch bei einer frühen unzureichenden förderlichen Umgebung zu chronischen Konflikten mit überwältigender Intensivität. Kinder, die in einer solchen Umgebung aufgewachsen sind und Traumen, frühe Verluste, sexuellen und körperlichen Missbrauch erleben mussten, sind dann auch später von Konflikten überwältigt, auch wenn diese für Andere  ’normale‘ Schwellensituationen darstellen.
  • Abwehrmechanismen
    Unbewusste Motive, Phantasien oder vergangene Erlebnisse, die den Individuen peinlich, beschämend und unerträglich erscheinen, werden durch bestimmte Strategien, den sogenannten Abwehrmechanismen vom bewussten Denken fern gehalten. Je nach individueller Entwicklung, innerer Struktur und Erfahrung stehen dem Individuum unterschiedliche Strategien zur Verfügung. Sie reichen von Verleugnung, Verdrängung, Verschleierung der Motive durch eine Verkehrung ins Gegenteil, Wendung der Aggression gegen sich Selbst, Sublimierung oder der Entwicklung von körperlichen Symptomen ohne ausreichende organische Ursache u.v.m. Alle diese Mechanismen versuchen sicher zu stellen, dass das Unerträgliche und Schmerzhafte nicht gedacht,  nicht gefühlt werden muss.
  • Beziehung zwischen Analytiker und Patient steht im Zentrum der Therapie
    Die Beziehungsgestaltung des Patient mit seinem Analytiker schafft einen Einblick, in die häufig unausgesprochenen Erwartungen des Patienten an seine Umgebung. Sie ermöglicht ein Verständnis für die verleugneten und verborgenen Wünsche, Phantasien und Impulse sowie für die konflikthaften Aspekte der Beziehung zu wichtigen Bezugspersonen der aktuellen und frühen Lebensgeschichte, in dem sich diese in der aktuellen Beziehung zum Analytiker wiederholen. Ausgesprochene und unausgesprochene Worte, Handlungen und Gesten wirken auf den Analytiker ein, bieten ihm sozusagen eine Rolle im unbewussten Drehbuch des Patienten an, die der Analytiker damit erforschen und verstehen kann, d.h. wie der Patient seine innere Welt samt seinen Erwartungen, Wünschen und Phantasien strukturiert hat. Der Patient „überträgt“ sozusagen seine Beziehungserfahrungen samt den Wünschen und Erwartungen auf den Analytiker und ermöglicht damit das Verstehen, die Durcharbeitung, das Reflektieren der Muster, die in der Vergangenheit immer wieder zu schmerzhaften und leidvollen Erfahrungen geführt haben.
  • haltgebende therapeutische Beziehung
    Die reale Beziehung des Patienten zu seinem Analytiker ist neben dem Verstehen der unbewussten Konflikte ein weiteres wichtiges therapeutisches Agens. Es gibt dem Pat. die Möglichkeit, sich in einem sicheren Raum und innerhalb einer haltgebenden therapeutischen Beziehung mit den eigenen schmerzlichen Erfahrungen, mit peinlichen und/oder beschämenden Impulsen und Wünschen beschäftigen zu können, ohne Bewertung oder gar Abwertung fürchten zu müssen. Die Sicherstellung einer solchen intensiven und sicheren Beziehung ermöglicht dem Patienten, seine innere Welt neu zu integrieren, strukturieren sowie andere, „gesündere“ Abwehrmechanismen entwickeln zu können.
    (vgl. hierzu u.a. Sandler & Joffe, 1969; Fonagy & Target, 2006)