Happy End

M. Haneke (2017): „Happy End“

Inhalt des Films:
Der gewählte Titel des Films hat initial verführerische Qualität, weil er das ubiquitäre Bedürfnis, dass alles gut werden soll zu bedienen verspricht. Aber zugleich überführt er anachronistisch, wenn der Film den Werteverfall einer großbürgerlichen französischen Großfamilie in Calais demaskiert, d.h. auch an einem Ort, an dem die westliche Welt mit dem Elend der Flüchtlinge konfrontiert wird. Ähnlich wie Eve, die 13-jährige Protagonistin, die die Welt um sich herum mittels Smartphone sieht und aufzeichnet und damit auch eine notwendige Distanz herstellen muss, bleiben auch die Zuschauer bei der Betrachtung des Unglücks und des Zerfalls in der Idylle häufig außen vor. Damit wird ihnen aber auch gespiegelt und kann Bewusstsein dafür schaffen, wie sehr Dissoziation, Entfremdung und die emotionale Neutralisierung von Bedeutungen als zentrale Abwehr- und Bewältigungsstrategien aktuell notwendig zu sein scheinen.

Psychoanalytische Filmbetrachtung
im CinéMayence

Kernszene des Films

Der Großvater von Eve erzählt ihr die Geschichte von einem Raubvogel, der einen kleinen Vogel im Flug erwischte hatte und am Boden zerfetzte. „Feder flogen herum und es sah aus, wie wenn Schnee gefallen sei“ und sagt dann für mich die entscheidendsten Sätze im Film: „Es ist komisch, wenn Du so etwas im Fernsehen siehst, kommt es Dir normal vor, so ist die Natur eben. Aber wenn Du so etwas in der Wirklichkeit siehst, zittern Dir die Hände“.

Orte des seelischen Rückzuges

Michael Haneke hält uns über weite Strecken mit seiner Kameraführung auf Abstand zum Geschehen. Wir fühlen uns in einzelnen Passagen des Films vielleicht gelangweilt und grübeln an einzelnen Stellen des Films, was diese oder jene Kameraeinstellung denn soll, bis häufig dann etwas ganz Unterwartetes passiert. Wir betrachten aus einer Totalen lange eine Baustelle, bis plötzlich in der Baugrube ein Teil der Stützmauer nachgibt und in dessen Folge eine Dixie-Toilette mit in die Tiefe gerissen wird. Vielen von uns wird dabei entgangen sein, dass kurz zuvor ein Mann dort in das Toilettenhäuschen ging. Während wir voller Irritation uns auf die nachgebenden Stützmauer fokussieren, bleibt die Kameraführung starr auf die Totale gerichtet.

Oder aber wir sehen den Cousin von Eve beim Einparken, sind vielleicht überrascht und vielleicht auch neidisch, dass ihm das ohne Nachjustieren beim ersten Mal perfekt gelingt und beobachten dann aus der Entfernung ohne Schnitt, wie er zum Eingang eines Wohnkomplexes geht, dort mit einem Mann spricht, der dann plötzlich unvermittelt den Cousin verprügelt und dieser sich nicht wehrt. Warum, wieso, weshalb bleibt völlig offen. Anfängliche Rat- und eine gewisse Teilnahmslosigkeit ist die Folge, obgleich sich im Verlauf des Films damit letztlich genau das ganze Elend der Familie, die innere Verzweiflung und der Schmerz von Eve sich in uns leise aber sukzessiv immer stärker auszubreiten beginnt.

Über dieses filmische Stilmittel lässt uns Haneke fühlen, wie Eve die Welt um sich herum erlebt und wahrnimmt, nämlich entfernt und möglichst teilnahmslos. Sie filmt die Geschehnisse um sie herum, teilweise kommentierend. Wie sagte der Großvater: „Es ist komisch, wenn Du so etwas im Fernsehen siehst, kommt es Dir normal vor, so ist eben. Aber wenn Du so etwas in der Wirklichkeit siehst, zittern Dir die Hände“

Was ist nun die Wirklichkeit von Eve: Die Mutter schwer depressiv, der Vater hat die Familie verlassen, als sie 5 Jahre alt ist stirbt der zwei Jahre ältere Bruder an einer Lungenentzündung, sie vergiftet ihren Hamster und eine Mitschülerin und sieht zu, wie die Mutter komatös wird und später stirbt, sie muss sich mit einer Stiefmutter und einen Halbbruder in einer völlig neuen Umgebung arrangieren, erlebt die beiden Suizidversuche des Großvater und auch sie will sich umbringen. Hierbei ist der Rückzug in eine innere Welt funktional und für Eve eine zentrale und notwendige Abwehrformation, die sich – wie gesagt, auch über das filmische Mittel mitteilt und in uns selbst einstellt.

Und für Eve ist hierfür das Smartphone/Internet etc. ein prothetisches Mittel.

Mit diesen Mitteln verändern sich fundamental die inneren Repräsentanzen und Symbolisierungen von An- und Abwesenheit, von Getrenntheit und Bezogenheit, die Bedeutungen des Blicks des Anderen und Konstellationen der Aufmerksamkeit (King 2018, S. 656). Wer unterwegs ist, stellt „Nähe“ in der Ferne her, wer zuhause ist kann Entferntes erreichen. Das mobile Gerät mit mobilen Daten und Verbindungen wird zur illusionären Beheimatung und schafft eine ebensolche illusionäre Verbundenheit abseits einer bedrohlichen face-to-face Interaktion. (King 2018, S. 643) Denn hier droht die unmittelbare Infektion mit Schmerz, Depression, Ohnmacht, Destruktivität aber eben auch die verführerische Sehnsucht nach Gehaltenwerden und Geborgenheit, die aber vermieden werden muss, weil diese Sehnsucht schon früh und tief enttäuscht wurde.

Diese nach Tilman Habermas „geliebten Objekte“ übernehmen mitunter Hilfs-Ich Funktionen, sind Terminkalender, geben räumliche Orientierung und fungieren auch als sog. Generationsobjekte, d.h. Objekte, mit deren Hilfe sich die jüngere Generation von der älteren zu differenzieren sucht. Sie erscheinen als eine Art Übergangsobjekte [sie kennen Linus von den peanuts mit seiner Schmusedecke] Sog. Übergangsobjekte unterstützen im Alter vom 4-12. Monaten den Übergang von der ersten frühkindlichen Beziehung zur Mutter zu anderen Beziehungen und machen den Säugling ein Stück weit von der unmittelbaren und ständigen Anwesenheit des versorgenden Objektes unabhängig. Sie ermöglichen damit den Weg hin zur Welt der Objekte. Im Falle des offenbar notwendigen seelischen Rückzugs sichern die „geliebten Objekte“ in der erforderlichen Rückwärtsbewegung diesen Rückzugsort ab.

Subjektivität ist immer das Ergebnis von Intersubjektivität

Nach dem Suizidversuch redet der Vater im Krankenhaus auf Eve ein und meint dann eher hilflos: „Wir können doch nicht in Dich reinschauen“, worauf Sie antwortet: „Du bist so weit weg“.

Ja, Eve selbst befindet sich weit weg an ihrem seelischen Rückzugsort, eine Art autistoide Position. Aber sollten nicht Eltern trotzdem eine Ahnung, ein Gefühl dafür haben, wie es den Kindern unausgesprochen geht? Im Unterschied zum Vater gelingt dem Großvater, der sich zwar als vertrottelt darstellt, sie aber zu Beginn mit einem „Willkommen im Club“ begrüßt ein berührender und authentischer Zugang zur Innenwelt von Eve, auch, weil er sich ihr gegenüber offenbart, seine Frau umgebracht zu haben.

Eve zeigt einen unsicher-vermeidende Bindungsstil, daran abzulesen wie starr und wie wenig moduliert ihre Mimik i.S. einer verminderten emotionalen Schwingungsfähigkeit ist. Sie funktioniert, zeigt sich überaus routiniert und „selbständig“, als sie ihre Sachen im Hause der Mutter packt. Etwas, was man auch bei Heimkindern beobachten kann. Beim Besuch im Krankenhaus wirkt sie teilnahmslos und will schnell wieder weg, vermeidet. Als sie dann nach dem ersten Schultag vom Vater im Auto abgeholt wird und der Vater sie fragt, wie es war, kann sie die Tränen nicht mehr halten.

Er: „ich bin nicht mehr gewohnt eine Tochter zu haben, verzeih mir, ich bin so ungeschickt“. Sie: „Fahren wir wieder?“. Der überforderte Vater überlässt es Eve, für die gemeinsame, entlastende und letztlich vermeidende Affektregulierung zu sorgen: ein lang eingeübtes, vertrautes, bekanntes und offenbar biographisch unbedingt erforderliches Interaktionsmuster.

Die Innenwelt von Eve und ihr hieraus resultierendes Verhalten ist die Folge der fehlenden Fähigkeit der primären Bezugspersonen zur Einfühlung (der sog. projektiven Identifizierung), bei einer depressiven, will heißen „toten Mutter“ oder mit einem emotional überforderten weil narzisstischen Vaters.

Eve spiegelt dem Vater in schonungsloser Offenheit, wie sie ihn sieht: „Ich weiß, dass Du niemanden liebst, Du hast Mama nicht geliebt, du liebst Aneis nicht, du liebst Claire nicht und du liebst mich nicht. Das ist nicht weiter schlimm, ich will bloß nicht ins Heim“

Diese sog. projektive Identifizierung, die letztlich über die Fähigkeit zur Einfühlung hinausgeht, ist ein überaus wichtiger intrapsychischer wie auch interpersonell notwendiger Entwicklungsmotor für die intersubjektive Geburt des Selbst, den Aufbau und die Abgrenzung von inneren Repräsentanzen des Selbst und der Objekte.

Ich weiß, das hört sich sehr abstrakt und unverständlich an. Aber jeder von uns kennt diese Prozesse, besonders wenn man Kinder hat. Denn Kinder kommen nicht auf die Welt und erklären uns, dass sie Hunger, Blähungen haben usw. Wir müssen es erspüren, erahnen oder zumindest versuchen wir es. Oder aber wir erleben fast körperlichen Schmerz, wenn diese sich verletzen. Pubertäre Jugendliche finden uns häufig einfach nur peinlich, böse, reglementierend. Und es bedarf manchmal großer Anstrengungen, sich von diesem projizierten Interaktionsangebot des Streitens nicht verführen zu lassen und neben allen notwendigen Grenzsetzungen trotzdem zugewandt zu bleiben. wir nennen das zu containen.

Bei Eve können wir eindrucksvoll sehen, welche Folgen das Fehlen eines solchen notwendigen empathischen Objektes mit der Fähigkeit zur projektiven Identifizierung haben kann.

Hilf-, Sprach- und Beziehungslosigkeiten

Das Primat eines letztlich sinn- und bedeutungsentleerten Handelns dominiert das Geschehen: der Vater macht mit seiner Tochter einen Krankenbesuch bei seiner Ex-Frau, holt sie nach dem Schulwechsel am ersten Tag von der Schule ab, geht mit ihr zum Strand. In einem wirklichen Kontakt zu ihr scheint er nicht zu sein („ich bin nicht mehr gewohnt eine Tochter zu haben, verzeih mir, ich bin so ungeschickt“). Man macht, was notwendig und erforderlich erscheint.

Diese Bindungs- und Beziehungslosigkeit zeigt sich insbesondere auch beim in den Alkohol flüchtenden Cousin, der, nachdem er verprügelt wird keinerlei Hilfe annimmt. Bedrückend ist nicht nur die Szene in der Karaoke-Bar, sondern auch als die Mutter ihn in seiner dunklen, unmöblierten und kargen Wohnung besucht: „Wie kann ich Dir helfen, bist Du überfordert, hast Du Angst, musst Du zu einem Arzt. (…) Sprich mit mir!“. „Ich tauge nichts“, „Was für ein Unsinn“, „Du denkst das doch selbst“. Und genau solche Wahr- und Gewissheiten werden verleugnet und müssen offenbar verleugnet werden. Sprache ist kein wirklich sicheres Mittel für einen authentischen und verlässlichen emotionalen Austausch. Was sagt Eve zu seinem Vater: „Hör auf Papa, Theater zu spielen“.

Die große Ausnahme in dem ganzen Geschehen bildet die Stiefmutter und der Großvater. Sie ist diejenige, die die Stieftochter am Abend bei ihrer Ankunft herzlichst umarmt, was der Vater beim späteren Zubettbringen nicht zustande bringen vermag. Sie ist auch diejenige, die um die narzisstische Bedürftigkeit des Mannes weiß und sich selbstlos für ihren Mann freut und dem sie unbedingt erzählen möchte, dass das gemeinsame Kind bei ihrem Anblick „Papa“ sagte.

Der Großvater scheint anfangs schroff und ablehnend, begrüßt sie aber mit „Willkommen im Club“. Und es ist der Großvater, der ehrlich und authentisch mit Eve anlässlich ihres Suizidversuchs in Kontakt tritt: Sie klopft bei ihm an die Tür und sagt: „Papa sagt, Du willst mit mir sprechen?“, „Nein, eigentlich nicht“. Sie bleibt irritiert über die ungewohnte Ehrlichkeit an der Tür stehen. Später dann: „Mach die Tür zu Prinzessin und setzt Dich her“. Eine sehr liebevolle Charakterisierung. Sie bleibt an der Tür stehen; „Hast Du Angst“; „Nein“; „dann setz Dich her“; sie zögert, hat dennoch Angst; „Nun komm schon“; „Gut; Dein Vater hat Dich angeschwindelt, ich will nicht mit Dir sprechen, Dein Vater hat mich gebeten es zu tun. Er sagt, dass Du kein Vertrauen zu ihm hast und er macht sich Sorgen“; sie lächelt wissend, fast ein wenig triumphierend; „Warum hast Du versucht, Dich umzubringen“. Sie schweigt. „Ich werde Dir etwas erzählen, Du kannst stehen bleiben oder Dich hinsetzen, wie Du willst“ Er holt ein Album aus dem Regal und bittet die Protagonistin zweimal, zu ihm zu komme. Er berichtet dann von ihrer Großmutter, die erkrankt und letztlich gelähmt war „Nach drei Jahren widerwärtigen Leiden, habe ich sie erstickt“; fassungslos schaut Eve den Großvater an; „es war die richtige Entscheidung, ich bedaure es keinen Moment“. „Das ist die ganze Geschichte, die ich Dir erzählen wollte, erzählst Du mir Deine Geschichte?“ „Welche Geschichte?“; „Warum hast Du die Tabletten genommen. (Schweigen) Glaubst Du ich bin zu dumm es zu verstehen? (schüttelt den Kopf)“. Mich hat diese Sequenz sehr berührt und an einen gelungenen und authentischen therapeutischen Kontakt i.S. eines sog. Gegenwartsmomentes (D. Stern) erinnert.

Aber Eve kann noch nicht über ihre Motive für den Suizidversuch und ihre mögliche Schuld am Tod der Mutter sprechen. Sie muss noch Zuflucht suchen in ihrem alten Muster und erzählt auch eine „Geschichte“ nach dem Motto: >>Du hast erzählt, was Du Schlimmes gemacht hast, jetzt erzähle ich Dir auch, was ich mal gemacht habe<<. Aber diese Geschichte kann sozusagen wie ein manifester Trauminhalt verstanden werden, der in maskierter Form alle Ingredienzien enthält: Sie wird von der Mutter in ein Ferienlager weggeschickt und soll durch Tabletten ruhiggestellt werden. Diese Enttäuschungswut und Verzweiflung agiert sie bei einer Mitschülerin aus, die sie nicht leiden kann. Außer, dass sie nach Hause musste, hatte dieses Handeln keine Konsequenzen

Sie vergiftet, weil sie sich vergiftet fühlt mit Leid, Depression, Lüge usw. Aber sie ist mit diesen vergifteten inneren Objekten auch identifiziert und mit der dann auf sich geladenen Schuld allein, es findet keine Bestrafung statt. Ein Bereuen kann es nur vordergründig geben und von daher transformiert sich ein Strafbedürfnis autoaggressiv i.S. des Suizidversuches.

Spielarten der Destruktivität

Der Hund, der die Tochter einer Angestellten gebissen hat muss ausgesperrt werden und steht damit paradigmatisch für den Umgang mit aggressiven Impulsen in der Großfamilie. Streitigkeiten bei Tisch zu Beginn des Films zwischen Tante und Cousin werden vom Großvater, der Ruhe will, unterbunden. Die Körperverletzung des Cousins durch den Sohn des schwer verletzten Arbeiters wird funktional zur Schuldabwehr und im Firmeninteresse genutzt, um mögliche Schadenersatzansprüche abzuwenden. Unmittelbare Formen der Destruktivität und Aggressivität müssen im Verborgenen stattfinden (Vergiftung) oder aber sind autoaggressiv gewendet.

Aber es gibt zwei Ausnahmen: anlässlich des 80. Geburtstages des Großvaters stellt der Cousin zur Beschämung der Anwesenden eine Bedienstete als „marokkanische Sklavin“ bloß und anlässlich der Verlobungsfeier der Mutter provoziert er einen Eklat, woraufhin die Mutter ihm bezeichnender Weise den rechten Mittelfinger bricht! Der Protest und das symbolische Aufbegehren gegenüber dem Werteverfall einer seelenlosen und teilweise korrupten großbürgerlichen Gesellschaft und deren Gehabe soll unterbunden, gebrochen werden.

Davor mag der Großvater nur flüchten und lässt sich im im Zuge dessen von Eve herausfahren und bittet sie, ihn auf einer abschüssigen Ebene ins Meer rollen zu lassen.

Innen versus außen / Ich und Du

In Calais, an dem die westliche Welt mit dem Elend und den Folgen einer globalisierten Welt konfrontiert wird, trifft die sich in Auflösung befindliche großbürgerliche Familienstruktur auf Migranten, die nach Europa drängen. Aber bezeichnenderweise stammt das Personal, das die Funktionalität und den Alltag der Großfamilie auch mit einer gewissen Fürsorglichkeit gewährleistet genau aus diesen Ländern: die Stützmauer beginnt zu bröckeln.

Europa, Amerika, Australien schotten sich ab und die Flüchtlinge und Migranten bieten eine Projektionsfläche für das ganze Destruktive der jeweiligen Gesellschaften. Zugleich schaffen diese Gesellschaften auch Rahmenbedingungen, wie mit dem sog. „Dschungel von Calais“, in der sich dann auch genau ein solcher aggressiv agierender Resonanzkörper weiter ausbilden und quasi als Bestätigung für die Projektionen wirksam werden kann.

Das aggressive Großmachtstreben einhergehend mit der Ausbeutungsneigung westlicher Gesellschaften sicherte die Wirtschaftskraft und das hohe Bruttosozialprodukt und fällt nunmehr auf sie selbst zurück und demaskiert eine fadenscheinige „fürsorgliche“ Entwicklungshilfepolitik, wenn man sieht, wie sie sich mit Tränengas, Mauern und Internierungslagern gegen das nach außen hin projizierte Destruktive zur Wehr zu setzen suchen. So dominiert im Zeitgeist aktuell eher das Prinzip „Entweder-Oder“ und eben nicht das „Sowohl-Als-Auch“. Und zugleich verwischen sich die Grenzen, wer oder was hier die eigentlich destruktive Kraft ist.

Aber diese geopolitische Dynamik lässt sich auf die innere Welt von Eve herunterbrechen: genau besehen ist sie beides, Opfer und Täterin der Destruktiven. Sie ist Opfer, aufgewachsen mit einer depressiven, will heißen zur Empathie nicht ausreichend fähigen Mutter, verlassen vom überforderten, weil narzisstisch akzentuierten Vater. Sie lebt die verinnerlichte Destruktivität aus, indem sie ihren Hamster, die Mitschülerin und vermutlich auch die Mutter vergiftet. Und uns allen stockte vielleicht der Atem, als sie alleine auf ihren Halbbruder aufpassen sollte, diesen ähnlich wir ihren Hamster abfilmte. Wir hätten ihr den Brudermord auch zugetraut, aber sie liebt ihn anstelle des gestorbenen älteren Bruders. Jetzt ist sie die Ältere.

Das Gute, das Destruktive liegt in der Innenwelt von Eve nahe beieinander, die Grenzen verwischen sich. Eve zeigt alle Aspekte eines sogenannten falschen Selbst: sie ist und musste Expertin für die Innenwelt Anderer sein und hat zugleich wenig oder nur einen unzureichenden Zugang zu sich. Häufig antwortet sie auf an sie gestellten Befindlichkeitsfragen mit „ich weiß es nicht“. Aufgrund der unzureichenden Fähigkeit ihrer Bezugspersonen zur projektiven Identifizierung ist sie sozusagen angereichert mit fremden inneren, depressiven und destruktiven Objekten und sie kann diese nicht von eigenen unterscheiden kann, weil sie im Rahmen einer ausreichenden Mütterlichkeit nicht in ihrem Sosein gespiegelt wurde. Von daher weiß sie eigentlich gar nicht so genau, wer sie ist, funktioniert aber im Sinne des falschen Selbst und erfüllt die an sie gestellten Erwartungen.

Entweder sie ist einsam aber geschützt an ihrem inneren Rückzugsort, oder aber sie geht das Wagnis eines Kontaktes ein, setzt sich dann aber der Wiederholung, des Nichtverstandenwerden, der Verletzung und der Infizierung mit vergiftenden Interaktionen aus. Letztlich durfte sie nicht die Fähigkeit erwerben, für sich sein zu können in der Anwesenheit des Anderen. Diese Fähigkeit zum Alleinsein setzt eben voraus, dass sie auf gute innere Objekte zurückgreifen und damit nicht auf die immerwährende Anwesenheit eines guten äußeren Objektes angewiesen ist.

Flucht aus der Wirklichkeit als Happy End

Zwischen Eve und dem Großvater entsteht letztlich eine große wechselseitige innere Verbundenheit, vielleicht die Einzige: während sie mit Hilfe des Smartphones Abstand zur äußeren und Zuflucht in ihrer inneren Welt zu finden sucht, möchte der Großvater durch Suizid aus der Welt entfliehen. Durch die Absurdität seiner verschiedenen Versuche, wie Migranten oder aber den Friseur um Sterbehilfe zu bitten hilft uns Haneke, zu diesem Thema Abstand zu halten. Diese Bemühungen wirken skurril, fast witzig und das, obgleich fast 45% der Suizide in Deutschland durch die über 60-Jährigen erfolgen.

Eve und der Großvater sind in der Flucht vor der Wirklichkeit vereint: der Großvater lässt sich ins Wasser gleiten und Eve zieht sich hinter ihr Smartphone zurück.

Happy End?

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